Mittwoch, 12. September 2012

Agree TO BIP OR NOT TO BIP?

Was passiert, wenn ein globalisierungskritischer Astrophysiker sich mit Wirtschftstheorie beschäftigt? Er entwickelt sein eigenes Schichtugsmodel für Gesellschaften und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Aber dazu noch ein paar Vorbemerkungen...
Ich hatte ja schon irgendwo erwähnt, dass Liberia das zweitärmste Land der Welt ist. Aber was bedeutet das überhaupt, wie misst man so was und welches Land ist denn noch ärmer?
Nun, das ärmste Land der Welt ist Kongo und der hier zugrunde liegende Indikator ist das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf. In meiner VWL-Vorlesung habe ich gelernt, dass das BIP der Marktwert aller für den Endverbrauch bestimmten Waren und Dienstleistungen, die in einem Land in einem bestimmten Zeitabschnitt hergestellt werden, ist. Es beschreibt also so etwas wie die Produktivität einer Volkswirtschaft. Die Kaufkraftbereinigung ist deshalb sinnvoll, da man sich in Liberia für $10 sehr viel mehr Big Macs kaufen kann, als man dies z.B. in den USA fürs gleiche Geld könnte. Man erstellt also einen Verbraucherpreisindex, der beschreibt, wie teuer die Lebenshaltungskosten in einem Land sind und normiert damit das BIP, damit die Werte international vergleichbarer werden.
Das kaufkrafbereinigte BIP pro Kopf ist somit aus volkswirtschaftlicher Sicht ein guter Indikator für die Produktivität eines Landes. Die ersten offensichtlichen Kritikpunkte an diesem Maß gestehen sich sogar Volkswirte selbst ein: Dieser Index missachtet unbezahlte Tätigkeiten wie Hausarbeit, Kindererziehung und Ehrenämter völlig. Außerdem entgehen ihm Schwarzarbeit und direkt getauschte oder verschenkte Waren wie z.B. bei der solidarischen Landwirtschaft oder in Umsonstläden. Aber es gibt noch weitere Kritikpunkte, denen man sich bewusst werden sollte, bevor man mit seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik blind das BIP steigern will: Jeder Autounfall steigert das BIP, denn es muss ein neues Auto hergestellt werden, die Versicherung hat mehr zu tun und auch die Pharmaindustrie freut sich über höheren Absatz. Umweltverschmutzung und Drogenkonsum steigern das BIP, da auch hier die Umsätze im Gesundheitssystem angekurbelt werden...
Oft wird das BIP auch als Wohlstandsindikator eines Landes herangezogen: Eine wirtschaftlich starke Nation hat doch alles! Aber ganz so einfach ist es natürlich nicht. Man kann dem BIP eine gewisse Korrelation zu Wohlstandindikatoren nicht absprechen, aber in das BIP gehen keine Zahlen über die Bildung oder den Gesundheitszustand einer Gesellschaft ein. Das BIP berücksichtigt nicht Unterernährung, Umweltverschmutzung oder soziale Sicherheit. Kennedys Bruder hat dazu einmal gesagt: „Das BIP misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht.“
Deshalb gibt es viele andere Indizes und Indikatoren, die auch soziale und ökologische Aspekte in die Wohlstandsdefinition aufnehmen. Der bekannteste davon ist wohl der Human Development Index (HDI), der sich aus Lebenserwartung (beinhaltet Gesundheit, Hygiene, Ernährung), Bildung und Wirtschaftsleistung zusammensetzt.
Richtig spannend (und gleichzeitig erschreckend) sind dazu die interaktiven Karten auf dieser Seite http://www.indexmundi.com/map/ und die „Verzerrte Welt“ Karten von http://www.monde-diplomatique.de/karten/ oder http://www.worldmapper.org/

Halten wir also einmal fest: Das BIP (kaufkraftbereinigt und pro Kopf) beschreibt die Produktivität einer Wirtschaft. Der HDI soll im Folgenden ein Stellvertreter für einen besseren Wohlstandsindikator sein (obwohl hier z.B. auch Umweltverschmutzung und soziale Sicherheit nicht direkt berücksichtigt werden).
Nun heißt es ja immer, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht und es für die unteren Schichten immer schwerer wird, zu einem gewissen Wohlstand zu gelangen. So weit sind dies auch statistisch belegbare Fakten, aber die Frage besteht nun darin, wie man diese Spaltung der Welt in arm und reich verhindern kann. Mit dem konkreten Vorgehen dabei beschäftigt sich der vorherige Post, aber ich habe mir eine Analysemethode überlegt, die angibt, ob die Entwicklung eines Landes denn in die richtige Richtung geht.

Dieser Vergleich kam mir in der Vorlesung zur stellaren Astrophysik beim Kapitel über Stabilität von Sternhüllen bzw. über das Konvektionskritierium. Dabei ist die Frage, wann eine Schichtung des Plasmas im Sterninnern stabil ist und ab welcher Bedingung an die Dichtegradienten es zu einer Durchmischung kommt. Dieses Bild der übereinander liegenden Schichten, die entweder stabil sind und kleine Störungen dieser Stabilität sofort unterdrücken oder labil übereinander liegen und eine Durchmischung von unten nach oben möglich machen, hat mich auf diese Analysemethode gebracht:
Unsere Gesellschaft kann man sich einfach gesprochen auch als geschichtet vorstellen. Unten die Armen, oben die Reichen oder eben nach aufsteigendem Wohlstand von unten nach oben. Erstrebenswert wäre eine Durchmischung dieser Schichten, so dass alle Menschen ähnliche ökonomische, ökologische und soziale Lebensbedingungen haben. Wie sieht nun aber dieses Stabilitätskriterium für unsere Gesellschaft aus? Im Sterninnern stellt man sich die Frage, wie sich die Dichte einer Blasmaplase beim Aufstieg relativ zum umgebendem Medium verändern würde. Bei meiner Analyse ist die Größe nach der abgeleitet wird also schon mal nicht die radiale Koordinate, sondern die Zeit und die zu vergleichenden Größen sind nicht die Dichte der Plasmablase und des umgebenden Mediums, sondern das BIP und der HDI.
Die Grundlegende Frage ist, ob die Bevölkerung etwas vom Wirtschaftswachstum ihres Landes abbekommt oder ob die Bevölkerung nur für die wirtschaftliche Produktivität ihres Landes herhalten muss, ohne dass ihr eigener Wohlstand steigt. Wenn die Bevölkerung etwas vom wirtschaftlichen Aufschwung ihres Landes abbekommt, hieße das, dass der HDI schneller steigen müsste als das BIP. Anderenfalls würden die Menschen der Wirtschaft dienen und dafür sorgen, dass es der Wirtschaft und nicht ihnen selbst gut geht. Aber eigentlich sollte die Wirtschaft dem Menschen dienen und deshalb lautet meine Formeln für eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, die der Bevölkerung langfristigen Wohlstand ermöglicht:
[(d HDI)/dt]/HDI > [(d BIP)/dt]/BIP
oder in Worten: Das relative Wachstum des HDI muss schneller sein als das relative Wachstum des BIP.

Naja und ihr könnt es euch denken, aber meine erste Analyse ist erschreckend! Es gibt kein einziges Land, in dem dieses Kriterium erfüllt ist. Beispielhaft habe ich das mal für ein paar Länder ausgerechnet, wobei alle Änderungsraten positiv sind und ich die Werte für 2010 und 2011 genommen habe:


Relative Änderung HDI
Relative Änderung BIP
USA
0.22%
3.91%
Deutschland
0.22%
5.26%
Schweden
0.33%
6.21%
Estland
0.36%
9.93%
Sri Lanka
0.72%
10.51%
Ghana
1.48%
16.03%
Haiti
1.10%
7.84%
Simbabwe
3.19%
11.66%
Liberia
1.22%
8.66%

In diesen Ländern wächst also die Wirtschaft, ohne dass es der Bevölkerung in gleichem Maße besser geht. Jetzt mag sich manch Kritiker meiner Theorie vielleicht denken, dass es für Länder mit hohem Wohlstand schwierig ist, den Lebensstandard noch weiter zu erhöhen. Aber dann frage ich mich, warum die Wirtschaft dann noch so krass wachsen muss, wenn da doch offensichtlich niemand was davon hat?!

Das war nur ein kleiner Ausflug in die Welt der Volkswirtschaft, der neoliberalen Dogmen vom Wirtschaftswachstum und der stellaren Astrophysik. Mein Analysekriterium ist wissenschaftlich vielleicht noch nicht ganz ausgereift (und bestimmt hatte vor mir auch schon mal jemand diese Idee), aber es zeigt doch sehr deutlich, in welche Richtung sich unsere Wirtschaft entwickelt.


Natürlich möchte ich noch anmerken, dass ich mich hier nicht für Wirtschaftswachstum in irgendeiner Form ausspreche. Wir müssen langfristig natürlich zu einer Wirtschaftsform gelangen, die zu ihrem Selbsterhalt nicht immer mehr Wachstum braucht. Aber das ist eine andere Geschichte...

1 Kommentar:

  1. "..frage ich mich, warum die Wirtschaft dann noch so krass wachsen muss, wenn da doch offensichtlich niemand was davon hat?!"
    Die Frage aller Fragen...
    Wachstum macht Ungleichverteilung erträglich. Ohne Wachstum steht der Kapitalismus ohne Hosen da.

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